Ebenso entscheidend wie ein flexibler Arbeitsmarkt bei der Integration von Zuwanderern ist das Bildungssystem. Mit der Berufslehre besitzt die Schweiz eine Bildungsform, die das Schwergewicht nicht auf formal-schulische Kompetenzen legt, sondern auf die betriebliche Realität und die praktischen Fähigkeiten. Für viele Secondos, die – für Schweizer Verhältnisse – aus eher bildungsfernen Elternhäusern stammten und gleichzeitig Aufstiegsambitionen hegten, war die Berufslehre in den vergangenen Jahrzehnten ein ideales Programm. Nicht von ungefähr gehören Jugendliche aus dem Balkan heute oft zu den besten Lernenden. Dazu kommt ein weiteres: Durch die frühe Bekanntschaft mit dem Arbeitsmarkt, dem Bewerbungsprozess, aber auch durch die Zugehörigkeit zu einem realen Betrieb und einem Arbeitsteam ist die Lehre selbst ein Integrationsinstrument. Für viele Jugendliche dürfte auch eine Rolle spielen, dass der Lehrmeister in dieser prägenden Phase als Autoritätsperson neben den Familienverband tritt. Die Lehre ist also praxisnahe Ausbildung und Sozialisierung zugleich. Dies könnte man sich auch für die möglicherweise kommenden Migrationswellen zu Nutze machen.

Angepasste Attestlehre für Flüchtlinge

Im Unterschied zur drei- bzw. vierjährigen Regellehre dauert eine Attestlehre lediglich zwei Jahre und betont die Praxis noch stärker, bei entsprechend reduzierten schulischen Anforderungen. Sie wird mit dem eidgenössischen Berufsattest (EBA) abgeschlossen und untersteht einheitlichen gesamtschweizerischen Regeln. Gedacht ist sie vor allem als niederschwelliges Angebot für schulschwächere Jugendliche und für weniger anspruchsvolle Berufe. Von den Neueintritten in die Berufsbildung des Jahres 2014 betrafen rund 10% (in absoluten Zahlen 7000 Lernende) Attestlehren. Sie werden in rund 20 Ausbildungsfeldern angeboten (vgl. Abbildung). Die Wichtigsten sind unterstützende Tätigkeiten im Verkauf (Detailhandel) und im Bereich Pflege und Soziales.

Für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika könnte die Attestlehre eine interessante Variante sein. Ihr Handicap auf dem Schweizer Arbeitsmarkt besteht aber in der Regel nicht darin, dass sie schulschwach sind, sondern dass sie überhaupt wenig oder keine Schulbildung genossen haben oder durch Kriegswirren davon abgehalten wurden. Viele von ihnen verfügen auch über keine eigentliche Berufsausbildung oder Kompetenzen, die in der Schweiz eingesetzt werden können. Oft kommt dazu, dass sie keine Landessprache sprechen und dass kulturelle Barrieren bestehen.

Zweijährige Berufslehre nach Branchen

Vorrang für den Sprachunterricht

Eine Lehre für Flüchtlinge müsste diese Tatsachen berücksichtigen. Konkret bedeutet dies, dass der Sprachunterricht im schulischen Teil Vorrang haben müsste. Möglicherweise braucht es etwas mehr Flexibilität zur Anpassung an die individuellen Voraussetzungen. Für die einen könnte das Gewicht mehr auf der Ausbildung im Betrieb liegen, für die anderen könnte es heissen, dass sie länger in die Berufsschule gehen. Flexibilität wäre auch beim Eintrittsalter gefordert: die Attestlehre sollte Flüchtlingen bis zu einem Alter von 30 oder 35 Jahren offenstehen.

Auch Betriebe müssen profitieren

Wird die Wirtschaft mitmachen? Zusätzliche Lernende entsprechen durchaus einem Bedürfnis. Schliesslich wird vom Gewerbe seit langem beklagt, dass Auszubildende in einfacheren, eher manuellen Berufen angesichts der Konkurrenz durch attraktivere Angebote immer schwieriger zu finden sind. Als wichtige Nebenbedingung sollte beim Design der individuellen Programme der Nutzen der Ausbildungsfirmen im Auge behalten werden, denn das Lehrstellenangebot beruht darauf, dass auch die Betriebe von den Lernenden profitieren. Die Dauer der Lehre sollte so gestaltet werden, dass am Ende eine Phase eintritt, in der die Produktivität der Auszubildenden den Lehrlingslohn übersteigt. Dieser Vorteil entschädigt den Lehrbetrieb für die Investitionen am Anfang des Programms. Umgekehrt können die lernenden Flüchtlinge früh einen produktiven Beitrag leisten. Die Befriedigung daraus würde wohl integrativer wirken als manches teure Integrationsprogramm. Das Pilotprojekt des Bundes und das Engagement der Migros mit der «Flüchtlingslehre» sind es wert, unterstützt und erweitert zu werden. Sie sollten einem möglichst grossen Teil der Flüchtlinge ermöglicht werden.

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